Der Wahnsinn reist mit! Warum Flughäfen ein hervorragendes Umfeld für Verhaltensstudien sind oder: Die unerträgliche Schwere des Wartens
Wer verreist, der erlebt etwas. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Der Reisende lernt neue Länder und Städte kennen, erforscht fremde Bräuche und Kulturen. Beobachtet manche Mitmenschen jedoch vor der Reise, kann keine Rede von Kultiviertheit sein. Höchstens von einer Kultur der Ungeduld und Kleinlichkeit, die sich bis zum Irrsinn steigern kann.
Es gibt ein großes Hindernis zu überwinden, bevor man die Freuden des Reisens genießen kann: die menschliche Natur. Als Reisefan werde ich regelmäßig Zeugin eines eindrucksvollen Schauspiels, dessen Sinnhaftigkeit sich mir wohl nie erschließen wird. Schauplatz der psychologischen Beobachtungsreihe: der Flughafen.
Jeder weiß: Wenn man per Flugzeug verreist, muss man einige Zeit vor Boarding vor Ort sein. Wenn man dann dank ausgebliebener Eventualitäten wie Autopanne und Stau frühzeitig am Flughafen ist, heisst es: Warten. Das Problem ist: Die meisten Menschen können nicht einfach warten. Das muss sich im Namen der Effizienz doch irgendwie beschleunigen lassen! Sehr beliebt ist dann der Blick auf die Anzeigetafel im Minutentakt. Könnte sich ja schlagartig was ändern. Und dann will man doch schließlich der Erste sein, der der Dame am Schalter seine Bordkarte unter die Nase streckt. Kaum sieht man auch nur den Schatten einer Frau, die zum Flughafenpersonal gehören könnte, heisst es: aufgereiht und zwar so schnell wie möglich! Wie die Lemminge folgt ein Reisender dem anderen. „Wenn der sich schon anstellt, muss ich das auch machen!“
Besonders eindrucksvoll – und mit eindrucksvoll ist abstoßend gemeint – ist der Moment der Landung. Sobald das Flugzeug dazu ansetzt, ist der Kampf eröffnet. Ebenso wie auf „Priority Boarding“ ist scheinbar jeder scharf auf „Priority Leaving“. Direkt muss nach der Tasche Ausschau gehalten werden und dann endlich klicken die Sicherheitsgurte: Bereit zum Angriff! Und warum das Ganze? Natürlich um wiederum der Schnellste an – Trommelwirbel – der Gepäckausgabe zu sein. Also stehen dieselben Menschen am Ende wieder gemeinsam am ewig rotierenden Laufband.
Viele Menschen scheinen bereits vom Transfer zum Reiseziel so gestresst zu sein, dass sie den Urlaub mehr brauchen als geahnt. Der Kampf um die besten Plätze und die Position in der ersten Reihe war kräfteraubend, aber jetzt ist er endlich ist vorbei. Zumindest bis zur Königsdisziplin: den Kampf um die Liegen am Pool.
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Die Kolumne erschien erstmalig im August 2023 im PiG Stadtmagazin Böblingen/Sindelfingen
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