„Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen“, das sagte einmal weise Gabriel García Márquez. Doch wenn man sich heutzutage umschaut, scheinen es eher die Handys und Digitalkameras zu sein, die unsere Erinnerungen transportieren. Die Erzählung ist scheinbar längst eine veraltete Kommunikationsform, zumindest in ihrer rein verbalen, digital ungeschmückten Form. Stattdessen fotografieren wir, laden unsere digitalen Erinnerungsstücke hoch, posten sie am besten tausendfach und warten natürlich auch auf entsprechende Reaktionen unserer Mitmenschen. Während die Erinnerung früher als behutsam gehüteter Schatz in unseren Köpfen, und höchstens noch auf dem Papier transportiert wurde scheint sie heute mit der zunehmenden Digitalisierung eine Veränderung durchlebt zu haben. Sie kann ganz einfach mit vielen anderen Leuten geteilt werden, rasend schnell und schier unbegrenzt in Größe und Dateiformat. Wir können unsere Erinnerungen abspeichern, als jpeg, gif, bmp, tiff, png, wmv, avi, mp4 und so weiter. Unsere ehemals privaten mentalen Souvenirs werden ganz einfach zu multimedialen Ausstellungsstücken unserer öffentlichen Galerie. Dabei ist vor allem schon der Prozess, während dem die Erinnerungen entstehen eine komplette „Entnaturalisierung“ des menschlichen Gedächtnisses. Waren es nämlich früher noch unsere klassischen fünf Sinne, die als einzige Medien für den Transport der Erinnerung fungierten, haben wir im technischen Zeitalter natürlich allerlei Hilfsmittel „an der Hand“, um alles und jeden zu dokumentieren. Unsere Smartphones, Handys und Digitalkameras gehören beim Verlassen des Hauses eigentlich immer zur festen Garderobe. Unsere Kommunikationsmittel sind nämlich hübsche Accessoires mit einer ganzen Liga an Funktionen und das macht sie so (scheinbar) unersetzbar.
Das beste Beispiel, um den Siegeszug des digitalen Mementos zu veranschaulichen ist folgendes Szenario, das bestimmt jeder schon einmal erlebt hat: Man ist auf einem gut besuchten Konzert, steht in einer Hundertschaft von Menschen und davon richtet bestimmt die Hälfte ihre Kameras oder Handys auf die Bühne. Dieses schöne, lustige, rührende oder wie auch immer geartete Erlebnis soll für einen selbst und natürlich die anderen realen und virtuellen Freunde festgehalten werden. Dabei scheint es oftmals also wichtiger zu sein, den Moment für die Zukunft festzuhalten, als ihn in der Gegenwart zu genießen. Denn während man auf sein Display starrt, um das Geschehen auch optimal zu digitalisieren, verpasst man leicht etwas Wesentliches: Das Geschehen selbst.
Daher ist es wichtig (und vor allem auch möglich), die richtige Dosis zu finden und sich trotz der digitalen Erinnerungen seine natürlichen ebenso zu sichern. Das heisst, die Umgebung auch „medial ungefiltert“ wahrzunehmen und auf der eigenen Festplatte abzulegen – ganz ohne Zielverzeichnis und Unterordner, den man später als Zip-Datei verschickt.
So sind die neuen Mittel der Technik keinesfalls Teufelswerkzeuge, außer sie sind in den Händen eines – metaphorisch gesprochen – „technikbesessenen Teufels“. Richtig eingesetzt können unsere künstlichen Erinnerungen nämlich selbstverständlich ihren größten Trumpf ausspielen, der den ganzen Reiz des Dokumentierens ausmacht: Sie werden nicht zum Ersatz, sondern zur Erweiterung unseres Gedächtnisses. Unsere natürliche Kapazität wird vergrößert und wir können unsere Erzählungen durch Fotos und Videos untermalen. Außerdem haben wir durch die objektive Technik die Möglichkeit, unsere Erlebnisse anderen überhaupt zugänglich machen, wenn die Worte gänzlich versagen.
Aber dennoch gibt es eine Situation, in der meiner Meinung nach, die Natur die Technik einfach spielend besiegt. Wiederum auf einem Konzert: Die Band spielt eine Ballade und fordert die Zuschauer auf ihre Feuerzeuge und Handys (!) rauszuholen, um damit die Stimmung zu untermalen. Es möge andere Ansichten geben, aber das Feuer gewinnt einfach haushoch gegen die kalt leuchtenden, blassen Displays. Weil dieses Element einfach schon seit Ewigkeiten funktioniert und zwar ganz ohne Software-Update!
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!